Einführung (Fach) / VL 5 Aussagenpsychologie (Lektion)
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VL 5
Diese Lektion wurde von Linjks erstellt.
- Genauigkeit von Augenzeugenaussagen l Je mehr visuelle Informationen, desto mehr korrekte Identifikationenl Überschätzung der Genauigkeit von Augenzeugen, insbesondere bei schwierigenIdentifikationsbedingungenl Studie (Wells et al., 1998): Nachträgliche DNA-Auswertungen: 40 Fälle unschuldig à 36davon Identifikation durch Augenzeugen
- Warum irren sich Augenzeugen? l Gehirn ≠ Videokamera oder Fotoapparatl Gehirn à Prägung durch soziale Wahrnehmungl Genauigkeit der Erinnerung determiniert durch… Aufnahme Prozess, in welchem Menschen Informationen der Umgebung bemerken und mitAufmerksamkeit belegen (Menschen können nur eineTeilmenge an zur Verfügung gestellten Informationen aufnehmen) Speicherung Prozess, in welchem Menschen Informationen im Gedächtnis speichern,die sie aus der Umgebung gewonnen haben Abruf Prozess, in welchem Menschen Informationenerinnern, die sie in ihrem Gedächtnis gespeichert haben
- Aufnahme Studie (Tollestrup, Turtle & Yuille, 1994): l Vergleich: Tatsächliche physische Merkmale von Kriminellen (Raub- und Betrugsfälle) vs.Beschreibung durch Opfer und Passantenl Ergebnisse:l Haare im Gesicht: 100% Passanten, 60% Opferl Haarfarbe: 48% Passanten, 38% Opfer Begrenzte Fähigkeit zur Aufnahme von Informationen, insbesondere bei unerwarteten, komplexen Ereignissen Determinanten: l Zeitraum der Beobachtungl Sichtverhältnissel Arousall Waffe (Shaw & Skolnick, 1999)l Rasse (à Voreingenommenheit für die eigene Rasse; Levin, 2000)l Erwartung!
- Speicherung: Rekonstruktives Gedächtnis =Prozess, bei dem Erinnerungen an ein Ereignis verzerrt werden durchInformationen, denen man nach dem Ereignis begegnet (Loftus, 1979) l Ursache: Problem der Quellendiskrimination (source monitoring) = Prozess, in welchemMenschen versuchen, die Quelle ihrer Erinnerung zu identifizieren (Mitchell & Johnson, 2000) l Fallbeispiel:l Bombenvorfall in Oklahoma 1995 à Tod von 168 Menschenl Täter: Timothy McVeighl Mechaniker sagt aus, dass er McVeigh und einen anderen Mann beobachtete, wie sie einen Tagvor der Explosion einen Lastwagen mieteten à „John Doe Nr. 2“l Weltweite erfolglose Suche nach John Doe -> Mechaniker verwechselte den Komplizen von McVeigh mit einem Mann,der einen Tag vor ihm im Büro gewesen war (Thomas, 1997)
- Abruf: Schwierigkeiten bei Identifizierungen: l Problem der „besten Schätzung“ --> Auswahl der Person einer Gruppe, die am ähnlichsten ist(selbst wenn die Ähnlichkeit nicht groß ist) (Wells et al., 1998)l Problem der unbeabsichtigten Mitteilung durch durchführende Personen (Wells et al., 1998) Empfehlungen bei Gegenüberstellungen: l Verhinderung der besten Schätzungl Jede Person einer Aufstellung sollte dem Verdächtigen ähnlich sehenl Mitteilung an Zeugen, dass der Verdächtige in der Aufstellung sein wird oder nichtl Präsentieren der Personen nacheinander, nicht gleichzeitigl Verhinderung des Problems der unbeabsichtigten Mitteilungl Die durchführende Person sollte nicht den Verdächtigen kennenl Verbesserung der Einschätzung des Zeugenl Konfrontation mit Bild- und Tonmaterial
- Beurteilung, ob Augenzeugen sich irren Überzeugtheit l Nur geringe Korrelation zwischen Grad der Überzeugung und Richtigkeit der Identifikation (Luus& Wells, 1994; Olsson, 2000)l Grund: Faktoren für Überzeugtheit ≠ Faktoren für Genauigkeit --> Überzeugtheit veränderbar z.B. durch Information anderer Zeugen (Penrod & Cutler, 1995) Automatische Prozesse l Größere Genauigkeit bei automatischem Erkennen vs. sorgfältigem Nachdenken Verbalisierung
- Beurteilung, ob Augenzeugen lügen l Polygraphen Polygraphen = Maschine, die physiologische Reaktionen misst (z.B. Herz- oder Atemrate); Anwender möchten erfahren, ob jemand lügt, indem er beobachtet, wie die Person physiologisch reagiert, während sie die Fragen beantwortet
- Beurteilung, ob Augenzeugen lügen Herangehensweisen: l Herangehensweisen:l Kontrollfragentest oder Vergleichsfragentestl Test des schuldigen Wissens oder Tatwissenstest
- Beurteilung, ob Augenzeugen lügen Große Fehlerquellen: l Große Fehlerquellen:l Polygraphen nur so gut wie die Person, die sie anwendet und interpretiertl Feststellung von divergierenden Reaktionsstärken aufgrund der Vielfalt der physiologischen Messungen schwierig ---> geringe Raterreliabilität --> Ca. 15% falsch-negative Antworten und 15% falsch-positive Antworten (Ekman, 1992)--> Verbot des Einsatzes von Polygraphen durch den Bundesgerichtshof aufgrund der Verletzung von Menschenwürde und Willensfreiheit (1954)--> Einsatz von Polygraphen als Indiztatsache (Amtsgericht Bautzen, 2013)
- Verbesserung der Aussagen von Augenzeugen Hypnose? l Keine Beweise für eine Verbesserung des Gedächtnisses (Ellsworth & Mauro, 1998; Kebell & Wagstaff, 1998)l Steigerung der Empfänglichkeit für Suggestion (Sanders & Simmons, 1983)l Steigerung der Überzeugtheit für Erinnerungen (Spiegel & Spiegel, 1987) Kognitives Interview = Technik, in welcher ein ausgebildeter Interviewer versucht, die Erinnerungen von Augenzeugen zu verbessern, indem er ihre Aufmerksamkeit auf Details und Kontext des Ereignisses lenkt l Verbesserung des Gedächtnisses bis zu 35% (Brock, Fisher & Cutler, 1999)l Steigerung von Irrtümern und Konfabulationen, insbesondere bei Kindern (Roberts, 1996) --> Grund: Fehler bei der Quellendiskrimination
- Wiedererlangung von Erinnerungen? l Replikation mit Kindern und Erwachsenen (Hyman, Husband & Billings, 1995) à Effekt unterliegt aber nur ein Teil der Probanden! l Syndrom falscher Erinnerungen (Pseudoerinnerungen) = Erinnerung an vergangenes (traumatisches) Ereignis, welches objektiv falsch ist, aber als wahr angesehen wird
- Effekte der Öffentlichkeit l Je mehr Informationen über einen Fall in den Medien, desto mehr Eindruck über Schuld des Verdächtigen (Kerr, 1995) Grund: Presse erhält viele Informationen von der Polizei l Erstellung von starken Verknüpfungen durch Medieninhalte – selbst bei einer explizitenAblehnung (Wegener, Wenzlaff, Kerker & Beattie, 1981): l „Bob Talbert hat keine Verbindung zur Mafia“ vs. „Bob Talbert kommt in die Stadt“ l Beeinflussung durch die Öffentlichkeit oft nicht bewusst (Ogloff & Vidmar, 1994)
- Informationsverarbeitung während eines Prozesses Konstruktion von Schemata über Fälle (Hart, 1995) l Beweisführung „nach der Geschichte“ stützt Schemabildung im Vergleich zu Beweisführung „nach den Zeugen“l Studie (Pennington & Hastie, 1990): 78% Verurteilung (Geschichtetaktik) vs. 31% Verurteilung (Zeugentaktik) Prozesse im Richterraum Bei Vorhandensein mehrerer Richter (z.B. Schöffengericht, Schwurgericht)l Einfluss von Mehrheitenl Einfluss von Autoritätenl Einfluss von Minderheiten
- Voraussetzungen für Beurteilung vor Gericht: Zugänge zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen l Verhaltensorientierte Ansätzel Inhaltsorientierter Ansatz: Aussage im Zentrum------> Entscheidend: Glaubhaftigkeit einer Aussage (nicht Glaubwürdigkeit einer Person!) „Undeutsch-Hypothese“ = Erfundene Handlungsschilderungen weisen im intraindividuellen Vergleich eine geringere inhaltliche Qualität auf als wahre l Generierung einer erfundenen Aussage aus kognitiven Schemata à hohe geistige Anstrengung, geringere Qualität der Aussagel Repräsentation einer wahren Aussage im autobiografischen Gedächtnis à geringere geistige Anstrengung, hohe Qualität der Aussage
- Untersuchungslogik Das Vorgehen soll dem methodischem Prinzip folgen, „einen zu überprüfendenSachverhalt so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Faktennicht mehr vereinbar ist.“ l Aussagepsychologische Prüfkonstellationen:l Hypothese H01: Selbstständig erzeugte, intentionale Falschaussage -> erfunden?l Hypothese H02: (Auto-)Suggestion --> suggeriert?l Hypothese H1: Erlebnisfundiertheit der Aussage --> wahr? = Falsifikationsprinzip Voraussetzung: Aussagetüchtigkeitl Fähigkeiten zur Wahrnehmung, Speicherung und Abruf von Gedächtnisinhaltenl Forensische Überprüfung: Sprachliche Kompetenzen, Realitätskontrolle, Quellendiskrimination,weitgehend selbstständiger Abruf
- Prüfung der H01 (intentionale Falschaussage) Qualitätsanalyse (Konstanz + Realkennzeichen) + Kompetenzanalyse ("Lügenkompetenz")
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- Prüfung der H01: Konstanz l Erwartung von Übereinstimmung bei erlebnisbasierten Aussagen: l Schilderung des Kerngeschehensl Benennung von unmittelbar beteiligten Handlungspartnernl Grobe Angabe von relevanten Örtlichkeiten l Erwartbare Schwankungen in erlebnisbasierten Aussagen: l Angabe von Nebenhandlungen oder Nebenpersonenl Zeitliche Reihenfolge von Phasen eines Vorgangs sowie Reihenfolge verschiedener in sich abgeschlossener Handlungenl Datierungl Häufigkeit von einander ähnlichen Vorgängenl Seitenverhältnisse und Position einzelner Körperteilel Kleidungl Wortlaut von Gesprächenl Motive früherer Handlungen oder Unterlassungenl Schmerzempfindungen
- Prüfung der H01: Realkennzeichen Realkennzeichenanalyse Allgemeine Merkmale Spezielle Inhalte Inhaltlische Besonderheiten Motivationsbezogene Inhalte Delikspezifische Inhalte
- Prüfung der H01: Realkennzeichen Allgemeine Merkmale: Allgemeine Merkmalel Logische Konsistenzl Quantitativer Detailreichtuml (Ungeordnet sprunghafte Darstellung) ---> Notwendige Eingangsvoraussetzung für eine weitere Analyse
- Prüfung der H01: Realkennzeichen l Spezielle Inhalte Spezielle Inhalte: l Raum-zeitliche Verknüpfungen l Interaktionsschilderungen l Wiedergabe von Gesprächen l Schilderung von Komplikationen im Handlungsverlauf
- Prüfung der H01: Realkennzeichen l Inhaltliche Besonderheiten Inhaltliche Besonderheiten: l Schilderung ausgefallener Einzelheiten l Schilderung nebensächlicher Einzelheitenl Phänomengemäße Schilderungen unverstandener Handlungselemente l Indirekt handlungsbezogene Schilderungenl Schilderungen eigener psychischer Vorgängel Schilderung psychischer Vorgänge des Angeschuldigten
- Prüfung der H01: Realkennzeichen l Motivationsbezogene Inhalte Motivationsbezogene Inhalte l Spontane Verbesserung der eigenen Aussage l Eingeständnis von Erinnerungslücken l Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage l Selbstbelastung l Entlastung des Angeschuldigten
- Prüfung der H01: Realkennzeichen l Deliktspezifische Inhalte l Deliktspezifische AussageelementeBeispielsweise: Ausnutzen von Spielsituationen von Seiten des Täters, Schweigeverbot oder kleine Geschenke bei jungen Kindern, Kontaktaufnahme über sexuelle Witze, angebliche Aufklärungsgespräche oder Komplimente bei älteren Kindern (Arntzen, 1993)
- Prüfung der H01 : Kompetenzanalyse Leistungsbesonderheiten l Gedanklich-kreative bzw. kognitive Kompetenzenl Sprachliche Kompetenzenl Bereichsspezifisches Wissen Relevante dispositionelle Besonderheiten Analyse der Motivation l Motiv = Relativ überdauernde Disposition, in unterschiedlichen Situationen ähnlicheHandlungen auszuführenl Motivation = Beweggründe für das Hervorbringen einer konkreten Handlung ----> Probleme: Motive sind nicht direkt beobachtbar, Motivanalyse ist spekulativ, ein- und dasselbe Motiv kann wahre oder bewusste falsche Aussagen evozieren
- Suggestion = Suggestion =Manipulative Beeinflussung von Fühlen, Denken oder Handeln, ohne dassdie Manipulation wahrgenommen wird
- Prüfung der H02: Suggestion Rekonstuktion von Aussageentstehung und -entwicklung + Persönlichkeit des Aussagenden
- Prüfung der H02: Aussagegenese Was sind die problematischen Bedingungen bei der Aussagenentstehung und Aussagenentwicklung bei Kindern? l Problematische Bedingungen bei der Aussageentstehung (Kinder)l Erstmitteilung nicht spontan oder assoziativl Erstmitteilung auf direkte Befragung von Seiten Dritterl Erstmitteilung auf dem Hintergrund sozialen Erwartungsdrucksl Erstmitteilung bei negativer/einseitiger Voreinstellung des Befragers l Problematische Bedingungen bei der Aussageentwicklung (Kinder)l Suggestive Befragungenl Unangemessene Atmosphärel Einseitige Hypothesenbildung des Befragendenl Wiederholte thematisch einseitige Befragungen ----> Zu viele und zu frühe Fragen verhindern eigenständigen Erinnerungsabruf---> Unangemessene, suggestive Fragen führen zu falschen Antworten
- Prüfung der H02: Aussagegenese Fremdsuggestion und Autosuggestion bei Erwachsenen Fremdsuggestion (Erwachsene):l Psychotherapien mit Förderung visueller oder narrativer Repräsentationen, einseitigemRealitätsgehalt, Voreinstellungen des Therapeuten Autosuggestion (Erwachsene):l Intensive Beschäftigung mit der relevanten Thematikl Intensive Erinnerungsbemühungen bei langem Erinnerungsintervall oder fehlender Erinnerungl Erklärung psychischer Mangelzuständel Sozialer Gewinn durch Opferstatus
- Prüfung der H02: Persönlichkeit l Suggestibilitätsfördernde Faktoren: l Ängstlichkeitl Psychische Labilitätl Junges Alterl Schwache intellektuelle Begabungl Vernehmung durch Autoritätspersonenl Emotionale Bindung an Befragendenl Weit zurückliegende Vorkommnissel Wiederholte Befragungen und Fragen zu bereits beantworteten Sachverhalten
- Logik des Hypothesenprüfens: Logik des HypothesenprüfensDiagnostische Leitfrage:Könnte dieser Zeuge mit den gegebenen individuellen Voraussetzungenunter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung des Einflusses Dritterdiese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert? Nein? Erlebnisfundiertheit! --> Waldanalogie