Erziehungswissenschaften (Fach) / EW-Allg.Päd. (Lektion)

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Vorderseite Bildungsbegriff nach Humboldt (Koller)
Rückseite

3.1 Das Verhältnis von Bildung und Erziehung

Der Bildungsbegriff setzt bei der Beschreibung pädagogischer Sachverhalte nicht beim Erzieher an, sondern beim Zu-Erziehenden, es rückt nicht in den Vordergrund was der Erzieher beabsichtigt, sondern was der Zu-Erziehende selber tut. An die Stelle der erzieherischen Einwirkung tritt beim Bildungsbegriff in systematischer Hinsicht also der Vorgang des Sich-Bildens bzw. der Selbst-Bildung.

Unter historischem Gesichtspunkt lässt sicher der Bildungsbegriff aus der Zeit um 1800 als Reaktion auf den Erziehungsbegriff der Aufklärung verstehen.

Kant wollte, dass Erziehung mehr ist als nur Vorbereitung auf das Leben, er wollte einen Beitrag zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse, andere Pädagogen hingegen wollten Kinder vorbereiten auf die Welt, wie sie nun mal ist.

Das entscheidende Stichwort lautet: Erziehung zur Brauchbarkeit. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Anforderungen, die das Arbeitsleben an die künftigen Gesellschaftsmitglieder stellt.

3.2. Die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts

Etymologisch ist das Wort Bildung mit Bild verwandt und wird dementsprechend zunächst auf die äußere Gestalt gebraucht. Um 1800 bezieht er sich dann nicht nur auf das Äußere, sondern vor allem auf die Entwicklung der gesamten Person.

Humboldt hatte eine zentrale Stelle in der preußischen Regierung (nur für kurze Zeit) und war maßgeblich an Bildungsreformen beteiligt.

3.2.1. „Die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“

Den Ausgangspunkt von Humboldts Überlegungen bildet die Frage nach dem Zweck. Entscheidend ist, dass er das Ziel menschlicher Entwicklung nicht im Blick auf Anforderungen bestimmt (er beruft sich weder auf religiöse oder politische Autoritäten noch auf gesellschaftliche oder wirtschaftliche Erfordernisse der Zeit). Sein Bezugspunkt ist das Innere des Menschen. Bildung wird von Humboldt als höchste und proportionirlichste Entfaltung der menschlichen Kräfte zu einem Ganzem verstanden. Diese Formulierung lässt sich in 4 Bestimmungen zerlegen: erstens Bildung von Kräften, zweitens höchste und drittens proportionirlichste Entfaltung dieser Kräfte, die es schließlich viertens zu einem Ganzen zusammenzufassen gilt.

Bei der Kräftebildung geht es nicht um Äußerlichkeiten, sein Ausgangspunkt ist der Mensch selbst. Das, was den Menschen zum Menschen macht, sind die Kräfte seiner Natur, die es zu stärken gilt.

Die zweite Bestimmung, höchste Entfaltung der menschlichen Kräfte besagt, dass die menschlichen Anlagen so weit wie möglich entwickelt werden sollen.

Die dritte Bestimmung lautet proportionierlichste Entfaltung der menschlichen Kräfte. Im Prozess der Bildung sollen die verschiedenen Kräfte also gleichmäßig zueinander entwickelt werden.

Die vierte Bestimmung lautet Entfaltung der Kräfte zu einem Ganzen. Die einzelnen Kräfte oder Anlagen sollen nicht isoliert oder in Konkurrenz zueinander entwickelt werden, sonder zu einem harmonischen Gesamten.

Humboldt fordert, dass Menschen danach beurteilt werden, inwiefern es ihnen gelungen ist Potentiale auszuschöpfen. Weitere Forderung: bei der Entfaltung menschlicher Kräfte soll man auch die Verschiedenheit der Köpfe Rücksicht nehmen. Was aber mit der ersten Forderung in Konflikt tritt.

3.2.2. Bildung als „Wechselwirkung“ von Ich und Welt

Humboldt denkt Entwicklung nicht als Einwirkung von außen, sondern als Entfaltung von Innen.

Bildung im Sinne der Entwicklung aller Kräfte ist für Humboldt nicht im Bezug des Menschen auf sich selber möglich, sondern nur, indem der Mensch sich an einem Gegenstand abarbeitet, der außerhalb seiner selbst liegt. Humboldts Bezeichnung für diesen Gegenstand lautet „Welt“, und die Beziehung, in die der sich bildende Mensch zu dieser Welt treten soll, wird von ihm als „Wechselwirkung“ zwischen Ich und Welt beschrieben.

Die Wechselwirkung lässt sich in 3 Bestimmung zerlegen: sie soll allgemein, rege und frei sein.

frei: die Forderung nach Freiheit besitzt auch politische Implikationen (auch durch die französische Revolution). Die Freiheit zielt nach der „freiesten Wechselwirkung“ von Ich und Welt vor allem auf bürgerliche Freiheitsrechte und einen freien Zugang aller Menschen zu möglichst vielen Aspekten von „Welt“.

Dem ähnelt auch Humboldts Vorstellungen von schulischer Bildung, indem er Allgemeinbildung für alle forderte, was damals aber nicht umsetzbar war.

Rege: Humboldt schreibt in diesem Prozess beiden Seiten, d.h. sowohl dem „Ich“ als auch der „Welt“ eine rege, aktive Rolle zu. Kein bloß rezeptives Geschehen, sondern eine aktive Aneignung der Welt.

Allgemein: Mannigfaltigkeit der Situationen. Bildung im Sinne der umfassenden Entwicklung aller Kräfte bedarf Humboldt zufolge einer vielseitigen, abwechslungsreichen Umgebung, durch die möglichst alle Kräfte angesprochen werden.

3.2.3. Sprache(n) als Gegenstand und Medium von Bildung

Sprache hat laut Humboldt eine besondere Bedeutung im Blick auf die bildende Wechselwirkung des Menschen mit der Welt. Die Auseinandersetzung mit Sprache setzt bei der Frage ein, welche Funktion der Sprache innerhalb dieser bildenden Wechselwirkung zukommt. Den Kern seiner Sprachphilosophie macht dabei eine Konzeption von Sprache aus, in der diese als Vermittlerin sowohl zwischen Ich und Welt als auch zwischen Ich und Du aufgefasst wird.

Humboldts Betonung der Vielfalt und Verschiedenheit der Sprachen hat unmittelbare Relevanz für seine Bildungstheorie. Denn wenn Sprache das entscheidende Medium jener bildenden Wechselwirkung von Ich und Welt ist, dann kommt der Verschiedenheit der Sprachen eine wichtige Bedeutung für die bildende Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt bzw. mit andern Menschen zu.

3.3 Zur Aktualität von Humboldts Bildungstheorie

Humboldts Bildungstheorie könnte aus heutiger Sicht leicht als überholt gelten.

Es ist aber gar nicht so unzeitgemäß. In pädagogischer Hinsicht könnte man es für unverzichtbar halten, über einen Begriff von Bildung zu verfügen, der sich nicht in der Orientierung am Äußern beschäftigt. Und gerade seine Betonung der Sprachenvielfalt ist angesichts heutiger gesellschaftlich-kultureller Entwicklung wieder aktuell.

Die Betrachtungen der Szene aus about a Boy macht deutlich, dass Humboldts Theorie in der Lage ist, zur Analyse und Interpretation der Entwicklung von Jugendlichen beizutragen, aber sie verweist auch auf die Grenzen, die darin bestehen, dass deren letztlich harmonische Auffassung der Vielfalt und Verschiedenheit von Sprachen der Pluralität (post)moderner Gesellschaften nicht mehr gerecht wird.

Diese Karteikarte wurde von henryrath erstellt.